Eröffnung: Freitag 26.08.2016 um 19:00
Ausstellung: 27.08. – 11.09.2016
Öffnungszeiten: Fr, Sa, So 15 – 20:00
Konzept und Organisation: Maria Hobbing
Jürgen Albrecht, Gudrun Becker, Martin Blau, Imme Bode, Ina Bruchlos, Dorothee Bienert, Ines Brinkschmidt, Kyung-hwa Choi-ahoi, Cylix, Marlene Denningmann, Thorsten Dittrich, Heinrich Eder, Maria Fisahn, Veronika Gabel, Heinz-Erich Gödecke, Jessica Halm, Stefan Hauberg, Kathrin Hassengier, Dorothea Heinrich, Sylvia Henze, Maria Hobbing, Frenzy Höhne, Annegret Homann, Inna Hoyer, Sho Hasegawa, Franziska Hübler, Suse Itzel, Heilwig Jacob, Thomas Jehnert, Ute Klapschuweit, Jaschi Klein, Jutta Konjer, Nick Koppenhagen, Manfred Kroboth, Gesa Lange, Volker Lang, Elke Mark, Rupprecht Matthis, Mariella Mosler, Vanessa Nica Mueller, Uwe Nitsche, Birgit Nordmann, Ralf Rainer Odenwald, Omar, Stefan Oppermann, Peter Paulwitz-Matthäi, Albert Reck, Martina Ring, Frank Röseler, Anna Rohr, Georges Roth, Bernhard Schwank, Almut Sach, Nimala Salom, Silke Silkeborg, Adriane Steckhan, Anna Steinert, Gregor Stockmann, Ellen Sturm, Surya Tüchler, Thyra Uhde, Nikos Valsamakis, Ingo Vetter, Gerd Vierkötter, Ilka Vogler, Veronika Werthmann, Franz Wintzensen, Wittus Witt, Roman Yusipey
Eröffnung: Freitag 26.08.2016, 19:00
Heinz-Erich Gödecke / Posaune
Begrüssung: Maria Hobbing, Ingrid Baireuther (Kulturbehörde)
Dorothee Bienert/Stimme, Gesang: Recitation 11, Georges Aperghis
ca. 20:00 Einführung und Begehung mit Hajo Schiff
20:30 Performance: Inna Hoyer, Nimala Salom
Kurze Zauberei: Wittus Witt
Kurzes Puppenspiel: Gregor Stockmann
21:30 Performance: Thyra Uhde, Martin Blau, Cylix, H.E. Gödecke
ab 22:00 Filme im Atelierzelt, Filme von: Marlene Denningmann, Nick Koppenhagen, Vanessa Nica Mueller, Anna Steinert, Franz Wintzensen
ab 23:00 Musik, Band H.E. Gödecke: Jovanka Backhus voc, H.E. Gödecke tb, Olaf Gödecke git & keyb, John Hughes b, Chad Popple dr
Ein Haus mit vielen Aufstiegen: Eine Paradetreppe geeignet für Prozessionen, symmetrische Freitreppen und Treppenhäuser, die ins Nichts führen. Die Architektur des Künstlerhaus Sootbörn am Rande des Flughafens ist theatralisch. Unter dem diesjährigen Motto Bühnenwelten, Scheinwelten wurden an die 67 Künstlerinnen und Künstler, Performer und Performerinnen eingeladen, auf diesen Ort zu reagieren.
Natürliches, Künstliches, Reales und Virtuelles werden sich mischen. Einst wurden die Obergeschosse wegen der Einflugschneise zurückgebaut, nun wird das Dach „Bauhaus“ gemäß bebaut: Wie es für einen von Himmelsfahrzeugen heimgesuchten Ort der Kunst nicht passender sein könnte mit Götterbäumen…
Musik und Bühnenmodelle, Puppen und Filme sind bei dem Thema zu erwarten. Schon ein einzelnes Foto, eine kleine Zeichnung kann eine Bühne sein, die ein spezielles Bild der Welt vermittelt. Umgekehrt können reale Orte wie die teils ausladenden, teils blinden Treppen oder die durch den Rückbau zweckfrei gewordenen Nischen des historischen Hauses zu künstlerischen Scheinwelten werden. Was überhaupt ist real ? „Nichts ist real! “ wird eine Performance belegen. Dass so etwas nicht nur metaphorisch zu verstehen ist, zeigt erst recht die Beteiligung eines Zauber-Künstlers.
Eröffnungsrede von Hajo Schiff
Erst einmal vielen Dank für die Klänge von Heinz-Erich Gödecke und Dorothee Bienerts furiose Asperghis-Rezitation.
Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Künstler und Freunde, eine Ausstellung wie diese, ist etwas Besonderes. Entscheidend am Zustandekommen sind zwei, die Sie bereits gehört haben: Die durch Frau Baireuther vertretene Kulturbehörde, die – natürlich neben der üblichen und unumgänglichen Eigenleistung der Künstler – die Finanzierung ermöglichte. Und Maria Hobbing, die über Missverständnisse, Unklarheiten und Widerstände hinweg diesem von Künstlern für Künstler ermöglichten Format entscheidend zur Existenz verhalf. (Übrigens – die schwarzen Figuren auf dem Simms der Eingangshalle, dieser „Zug der Flüchtigen“ mit seinen Kindersoldaten oder auch Soldaten für Kinder, ist auch von Maria Hobbing).
Nach einigen Gedanken zum hier gewählten Titel „BühnenWelten, ScheinWelten“ wird ein Rundgang durchs Haus und das Gelände angeboten mit weiteren Assoziationen zu einzelnen Werken. Danach gibt es weitere Performances, so von Nirmala Salom und Inna Hoyer, es gibt Zauberei von Wittus Witt und später im Arbeitszelt von Volker Lang ein von Suse Itzel zusammengestelltes Filmprogramm und zur Nacht die Band von Heinz-Erich Gödecke (von dem es auch einen mehrteilige sklulpturale Klanginstallation hinten im Garten Richtung Sportanlage gibt).
Eigentlich sollte für „BühnenWelten, ScheinWelten“ sogar ein Zirkus-Zelt aufgebaut werden, ein halbes zumindest. Aber vielleicht wäre das auch zu viel Theatralität. Sie müssen die Bühne nun also einfach bei jedem Kunstobjekt einfach mitdenken – eben als Überschrift, nicht als reale Erfüllung des Themas. Es ist so bisschen wie bei den Wörtern von Rupprecht Matthis im Galerie-Raum: Sind die ersten Wörter „LOVE AND“ … fügt sich alles Weitere als Kombination dazu und ganz fremde Worte werden mit möglicherweise neuem Sinn auf diese Vorgabe bezogen.
„BühnenWelten, ScheinWelten“ also … mit über 65 Künstlerinnen und Künstlern, Performern, Musikern, Filmemachern…. Es geht NICHT um eine Präsentation des Studiengangs Bühnenbild. Es geht auch kaum um die Bildraumkonstruktion der Renaissance, um die damals entwickelten, bis heute wirksamen Perspektiven, die den Betrachter in die Bild-Bühne hineinziehen und ihm das Bild – wie Leon Battista Alberti es so schön formulierte – als einen „Blick aus dem Fenster“ in die Scheinwelten künstlerischer Darstellung ermöglichen. Es gibt hier auch nicht mehr allzu viele Gemälde, auf die das anwendbar wäre. Allerdings ist sogar ein Bild dabei, das ausdrücklich nicht auf diesen gemalten Scheinraum referiert, sondern auf das direkte Gegenteil der italienischen Renaissance, nämlich auf die Ikonen der Ostkirche: Nikos Valsamakis beglückt mit einer goldenen Tafel, bei der in der Tradition der Ikonen-Malerei nicht der Betrachter virtuell in das Bild eindringt, sondern ein Fernes, Höheres aus dem Bild heraus sich offenbart. Doch dergleichen interessante Bildtheorien sollen hier nicht weiter verfolgt werden.
„BühnenWelten, ScheinWelten“ ist als Titel wie immer bei Gruppenausstellungen nicht viel mehr, als eine lose Richtschnur sowohl der Auswahl, wie der der Betrachtung. Theatralisch im engeren Sinne ist dabei wenig. Es geht eher darum, bildende Kunst generell als Bühne, als Theater zu verstehen. Und das vor allem in dem von Friedrich von Schiller betonten Sinn, in dem Theater als eine moralische Anstalt verstanden wird… zwar als eine Scheinwelt, aber als emanzipatorisches Phantasiegefährt und mit Aufklärungsanspruch. Doch heute ist Kunst überwiegend als Geldanlage oder BespassungsEvent bekannt. Einer Kunst als Erkenntnismittel, wie es besonders in den siebziger Jahren gewollt wurde, bleibt heute nur ein noch ein schmaler Grad. Selbst so etwas wie „Das Kapital“, eine der zentralen Arbeiten von Joseph Beuys, wird zur Zeit in Berlin, im Hamburger Bahnhof in völlig absurd herbeigegoogelte Wunderkammer-Kontexte gesetzt, eine schreckliche dumme Ausstellung hat uns Eugen Blume da vermacht.
Kunst, die in zweckfreiem Interesse aufklärerische Zwecke verfolgt, ist heute leider nur noch ein Segment unter vielen im bunten Garten der zahlreichen Spielarten von Kunst. Kunst müsste überhaupt längst in den Plural gesetzt werden.
Es ist auch eine Überlegung wert, sich zu fragen, ob es inzwischen nicht durchaus riskant ist, wenn die Kunst ausdrücklich Scheinwelten propagiert. Es gibt schon so viele davon, ja man kann nicht umhin, oft zu glauben, andere Mit-Lebewesen seinen in jeweils eignen Scheinwelten geradezu gefangen. Es gibt durchaus einen von der Vergnügungs- und Verblödungs-Industrie geförderte Tendenz, die Scheinwelten nicht mehr als das ANDERE, sondern als DIE Realität, Realität 2.0 oder gar 3.0, erscheinen zu lassen. Bei Olympia in London springt die Königin mit James Bond am Fallschirm ins Stadion, der japanische Ministerpräsident Abe bohrt sich als Super-Mario einmal durch die Erde, um im Stadion in Rio aufzutauchen. Die Medien erzählen täglich aus dem Leben der Schönen, Reichen und drittklassigen Pseudo-Berühmtheiten scheinbar glamouröse, tatsächlich völlig belanglose Einzelheiten, die zudem oft schlicht erfunden sind. Oder sowas: Im Netz gibt es hunderte von Filmen, die zeigen, wie Katzen panische Angst vor Gurken befällt. Gut, man muss Gurken nicht mögen … aber was für eine Gurke!
Es geht nicht darum, wieweit der Einzelne das alles auf den verschieden Leveln des Fakes durchschaut, wie ironisch oder aufgeklärt er damit umgeht. Es geht um das Phänomen als solches. Denn geht die Distanz zur Bühne, die Distanz zum Schein verloren, breitet sich der schiere Wahn aus. Die Wahnwelten der Fratzenbuch-Freunde, Pokemon-Jäger und internet-Junkies, die Wahnwelten pausenloser autistischer Selbstbespiegelung einerseits, der wahnhaften Rückbindung an Religion und Nationalismus andererseits, die Wahnwelten des Hochfrequenzhandels und der virtuellen Geldvermehrung und viele andere Wahnsystem mehr, nicht zuletzt auch der Wahn, ein korrektes und richtiges Leben sei möglich mithilfe absurder Nahrungs- und Körperoptimierung, mit biologischen Konstruktionen und kleinen, subjektiven Weltenschöpfungen.
Die Kunst aber traut sich trotz allem immer noch und immer wieder zu, ein Reflexionsraum zu sein. Sie vertraut darauf, dass ihre Scheinwelten anregen, sich in Differenzbildung zu üben und befähigen, andere, aufgezwungene Scheinwelten analytisch gestählt zu durchschauen. Hier in der Ausstellung werden politische Scheinwelten vorgeführt im mächtigen Brüssel und im geteilten Zypern (eine stumme filmische Anklage über den Riss, die Teilung der Insel von Sylvia Henze), hier im Sootbörn wird die Wahrnehmung auf die Probe gestellt mit echten Steinen und lebenden Holzstatuen, mit falschen Pflanzen und unmöglichen Räumen, hier werden Texte zum Schweigen und Texturen zum Reden gebracht.
Mit den Performern und Musikern sind über 65 Künstlerinnen und Künstler am Projekt „BühnenWelten/ ScheinWelten“ beteiligt. Dazu noch einige seltsame weiße Künstlerseelen oder gar Außerirdische, die sich im hinteren Garten vor ebenso weißen Tafeln spiegeln, eine stilles Element von Franziska Hübler in der großen metaphorischen Produktionsgemeinschaft des Projekts.
Zu den Bildern, Objekten und Installationen kommt nicht nur heute Abend, sondern auch in den nächsten Wochen ein Veranstaltungsprogramm, das mit Performances, Lesungen, Puppenspiel etc. schon ein kleines Festival ist. Es ist unmöglich, alle Arbeiten und Aktionen hier zu besprechen. Aber, bei aller Ungerechtigkeit des Heraushebens, seien einige Positionen exemplarisch erwähnt:
In einem ungemähten Teil des Vorgartens befindet sich ein barockes Gartenmuster von Martina Ring, eine Referenz an den 1776 in der Elbmarsch angelegten Garten des kleinen Barock-Schlosses Agathenburg bei Stade mit den zeittypisch architektonischen Formen. Hier wirkt das nun wie ein im Garten vergessenes Brettspiel, der damalige Wunsch zivilisatorisch und priviligiert die Natur zu beherrschen, hat nun sein Pathos verloren und wird zum spielerischen Zitat einer Erinnerung. Martina Ring, deren Werk stets um Gärten kreist (einige werden sich an die im Gegentakt wachsenden Weinreben von der Südhalbkugel in der Abschluss-Ausstellung der HfbK erinnern) verweist auch drinnen an anderer Stelle mit ausgeschnittenen Gartenskulpturen auf die Bühnenwelt der barocken Gärten a la Versailles und inszeniert den Gartengöttern einen neuen Auftritt. Der Garten als Bühne, die gezähmte Natur als Scheinwelt des Adels und als Zeichen der in Vernunft gegründeten Dominanz aristokratischer Weltverbeserungsmacht über Natur und Gesellschaft … . Doch die Romantik setzte dem allen ein Ende. Bernhard Schwanks verwitterte, vermutlich mythische Parkskulptur auf dem Sockel ist eine im Zustand der Renaturierung befindliche Plastik. Spätere Archäologen werden sagen – wie immer, wenn sie keine Funktion erkennen können – Religiöses Objekt ! … auch das ein Schimmer der Scheinwelt.
Der barocke Garten erschuf eine Bühnenwelt, die Natur selbst bildet heute Parallelwelten aus. Die Globalisierung hat nicht nur Millionen Menschen in Bewegung gebracht, auch Tiere und Pflanzen wandern in neue Kontinente. Ingo Vetter hat mit Ästen des Götterbaums am Eingang des Hauses ein seltsam fremdartiges, dennoch die Proportionen und Formen des Hauses berücksichtigendes Konstrukt gebaut. Er hat sozusagen dem Bauhaus ein Baumhaus zugefügt. Aber nicht nur das. Das Material stammt vom Götterbaum… Das könnte auch als hintersinnige Ehrung verstanden werden, ist aber der tatsächliche Name eines ursprünglich in China und im nördlichen Vietnam beheimateten Baumes. Vielleicht ist weniger die Arbeit selbst, als diese biologische Spezies erklärungsbedürftig: Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde sie in anderen Teilen Asiens sowie in Europa, Amerika, später in Afrika und Australien angepflanzt. Mittlerweile ist sie wildwachsend weltweit in allen Gebieten mit gemäßigtem oder Mittelmeerklima vertreten. Der Götterbaum gilt als Europas schnellstwüchsiger Baum. Die ersten Pflanzen gelangten 1740 durch den Jesuiten Pierre Nicolas d’Incarville nach Paris. Der Götterbaum war nicht nur Zierpflanze, er sollte auch wirtschaftlich genutzt werde. In Wien bemühte man sich, mit Hilfe dieses Baumes den Seidenspinner als Nutztier in Europa einzuführen. In Berlin gibt es ihn seit 1780. Wild wachsende Götterbäume sind heute in den Innenstädten der größeren deutschen Städte häufig; sie traten jedoch erst nach 1945 verstärkt auf Trümmerflächen auf. Der Götterbaum ist relativ resistent gegen Salz, Trockenheit und Herbizide und toleriert den von urbanen Luftverunreinigungen ausgehenden Stress oft besser als viele andere Stadtbäume. Aber er benötigt eine Jahresmitteltemperatur von etwa +9 Grad Celsius, reagiert empfindlich auf Winterfröste und liebt daher städtische Wärmeinseln. Der Götterbaum wird zu den hundert problematischsten invasiven Arten in Europa gerechnet. Einmal etabliert, ist er nur mit großem Aufwand wieder zu entfernen. Die hier zuständigen Ämter hatten somit gar nichts dagegen, dass Ingo Vetter in der Nähe einige gefällt hat. Hier grüßt dieser Neophyt das Künstlerhaus, selbst seit 1993 so etwas wie ein Neophyt in einer 1929 von dem Architekten Ernst Wilhelm Langloh im (mit Flugzeug-Zitaten erstaunlich narrativen) Bauhausstil erbauten Schule.
Ein Künstlerhaus in einer Schule hat ja was, vor allem die alte Aula als ganz vorzüglichen Ausstellungsraum. Aber denkt man heute an Schule, fällt einem weniger das disziplinierte Arbeiten an der Erziehung zur Mündigkeit ein, sondern vielmehr Jugendliche, deren Probleme, die richtige Verortung zwischen den scheinbar vielen Welten zu finden, in der schrecklichen Selbst-Ermächtigung zum Töten endet….Die davon mittelbar Betroffenen reagieren auf solche AMOK-Läufe und ähnliche Wahnsinns-Akte überall in der Welt mit einem vergleichsweise jungen Ritual. Sie errichten animistische Betroffenheitsaltäre. Da niemand in der Realität vor Ort ernsthaft sich gegen Kinder, Tiere und frisch Verstorbene wenden mag, muss die Kunst diese bodenlose Sentimentalität aufspießen. Uwe Nitsche arbeitet schon lange in und mit der Scheinwelt der Stofftiere. Von ihm finden wir hier einen Prototyp eines Betroffenheits-Altars. Schon fast so schön wie in der medialisierten Realität zeigt er uns eine dieser Sitten, deren Beginn nicht mehr erinnerbar ist, einen säkularen TrauerKult höchst eigener Ausprägung, eben so seltsam wie die urplötzlich auftauchenden Liebesschlösser an Brücken. Wir werden erinnert an eine durchmedialisierte Scheinwelt, in der für reales Leid keine Platz ist, in der das christliche Leid-Erlösungs-Schema nicht mehr gilt; an eine Welt, in der Betroffenheit einen analogen Ausdruck sucht und schließlich in infantilen Niedlichkeitsgesten Trost findet.
Eine andere, eine ökonomische Parallel-Welt thematisiert die Nacht-Malerin Silke Silkeborg: Sie befasst sich mit den für Normalbürger unzugänglichen Hintertür-Welten der Beeinflussungsmaschinerie am Brüsseler Sitz der Europäischen Union. Die erprobte Nacht-Malerin gibt ihrem Werk einen politischen Akzent und setzt die dunklen Machenschaften der EU in Szene, wenn auch sehr verschlüsselt. Denn die Guerilla-Malerin sucht in diesem zwar realen, sich dem Zugriff aber wie eine Scheinwelt entziehenden Milieu fast kriminalistisch nach Spuren, wo es keine gibt. Die Machenschaften und Wirkungen, die von den Brüsseler Büros der Lobbyisten ausgehen, sind eben nicht sichtbar. Nur ihre Büroschilder und Eingangstüren: Firmen wie Pernod-Ricard oder Google sind dabei, welche mit so sinnigen Namen wie „Business Europa“ oder internationale PR-Agenturen wie Fleischmann-Hillard oder Burson-Marsteller (letztere beriet u.a. Diktatoren wie Nicolae Ceaușescu oder Augusto Pinochet). Was wir aber von diesem politischen Hinterzimmer-Theater sehen können, ist bloß ein kleiner Lichtkegel auf dem Boden davor.
Ganz sicher in seiner komplexen Durcharbeitung ist er am direktesten am Thema der Ausstellung: Franz Wintzensen : In seinem Projekt „Der Elektro-Heiler“ erzählen neun angeblich vor der Müllabfuhr gerettete Bühnenbild-Kästen eines verschollenen Theaterstücks und ein daraus assoziativ abgeleiteter 21-minütiger Film eine besondere Geschichte: Franz Winzentsen, der Schriftsteller Gunter Gerlach und ein Team bildender Künstler haben versucht, anhand der Bühnenbildmodelle den Inhalt des Dramas zu rekonstruieren. In diesem mehrfachen Fake geht es um den Mythos des Stroms in der (Pop-)Kultur des 19. Jahrhunderts. Magisch aufgeladen als heilender Strom, ja als belebender Strom in Filmklassikern wie Metropolis oder Frankenstein… eine literarische Scheinwelt wird gespiegelt in einer Bühnenwelt, die selbst nur eine Scheinwelt der künstlerischen Fiktion ist.
© Hajo Schiff, Hamburg 08/2016