Donnerstag, 31. August um 19:00 Uhr
Lesung im Rahmen der Ausstellung UNCOVER II
WHO IS WITCH
Der 1974er Prozess gegen Judy Andersen und Marion Ihns wegen des Auftragsmordes an Ihns‘ gewalttätigem Ehemann war ein Wendepunkt der feministischen Bewegung in Deutschland. Aktivistinnen aus der ganzen BRD versammelten sich in Itzehoe und protestierten wochenlang gegen die diffamierende Berichterstattung und die offensichtliche Ungleich-Behandlung von Frauen durch die Gerichte. Bis heute ist dies der einzige Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte, bei dem die Presse ununterbrochen während der Verhandlung fotografieren durfte. Die Presse nutzte die Anklage gegen die beiden Frauen, um die lesbische Liebe an sich zu kriminalisieren und vor allem die Boulevardpresse zeichnete homosexuelle Frauen in allen schillernden Farben des Devianten. Die mediale Aufmerksamkeit rund um den Prozess brachte jedoch auch das Thema Häusliche Gewalt ins öffentliche Bewusstsein, was 1976 zur Gründung des ersten Berliner Frauenhauses führte.
Ich persönlich habe vom Itzehoer Prozess erst in der Ausstellung „to be seen. queer lives 1900-1950“ im nsdoku München (Münchner Dokumentationszentrum für die Geschichte des Nationalsozialismus) erfahren. Als ich das historische Ereignis recherchierte, war ich über die sexistische, misogyne, klassistische, queerfeindliche und rassistische Sprache der Presse geschockt. Unter anderem bin ich über den Begriff der „Hexe“ gestolpert, mit dem die beschuldigten Frauen negativ besetzt wurden. Deshalb folgt der Gedichtzyklus WHO IS WITCH? meiner Suche nach lesbischer Sichtbarkeit (gegenwärtig und historisch) und reclaimt die „Hexe“ als positiv, kraftvoll und queer.
– Jennifer de Negri –
SO ÖFFENTLICH WIE MÖGLICH
Ich gehe in einen Prozess, der nicht meiner ist. Mein Täter ist tot. Kann ich mir einen Prozess erschreiben? Einen Prozess, den ich nie hatte? Sechs mal ging ich zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 zu Recherchezwecken ins Landgericht Köln, in den Prozess gegen einen pädophilen Babysitter: schwerer sexueller Missbrauch in mehr als 100 Fällen. Wie werden Zeug*innen befragt? Wie wäre ich befragt worden, wenn es einen Prozess gegen meinen Vater gegeben hätte? Und was schreibe ich, das die Journalist*innen nicht schreiben?
Eine Mitarbeiterin vom Radio nennt meinen eingereichten Text „wichtig“ und „mutig“, teilt mir zugleich aber mit, dass der Sender sich gegen eine Hörspielproduktion entschieden habe: Zu sehr verbliebe ihnen die autofiktionale Erzähler*innen-Stimmen, die den sexuellen Missbrauch aus Kindertagen rekapituliert, „in der Opferdimension“. Wer bestimmt, wer wie worüber wann öffentlich spricht?
Die Eindrücke aus meiner Gerichts-Recherche habe ich in mein Atelier mitgenommen. Wörtlich habe ich dort Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, das Transkript einer Trauma-Konfrontationstherapie-Stunde zusammengelegt und wieder auseinander genommen: FAKE IT TILL YOU MAKE IT, FAKE IT TILL YOU DIE. Die schmerzhaften Gleichzeitigkeiten habe ich zu einem subjektiven Text verwoben. Lieber ins Papier, als in das Fleisch: Das Mantra bleibt. Ich begegne dem Schrecken mit Sprache & manischer Handarbeit.
– Suse Itzel –
Gefördert durch die Claussen-Simon-Stiftung, die Poolhaus-Blankenese-Stiftung und die Behörde für Kultur und Medien Hamburg.